Ein Gespräch mit der Friedens- und Gerechtigkeitskommission

Wie schafft es eine Gemeinschaft, die unter derart feindlichen Bedingungen wie die Bevölkerung des Camps Mexmûr lebt, über Jahre hinweg zusammen zu halten und aus den schwierigen Phasen und Angriffen gestärkt hervor zu gehen? Warum ist diese Gemeinschaft derart solidarisch, wo wir doch in Europa lernen, dass der Mensch des Menschen Wolf sei? Diese Fragen haben wir uns während unseres Aufenthalts immer wieder gestellt. Darum sind wir froh, dass wir mit Yusuf, Bêrîvan und Mansûr von der Kommission zur Lösung gesellschaftlicher Fragen ein Gespräch darüber führen konnten.

Wir möchten zunächst mit ein paar grundlegenden Fragen einsteigen: Wie seid ihr ins Rätesystem eingebettet? Was macht eure alltägliche Arbeit als Kommission aus? Und auf welcher Philosophie basiert euer Umgang mit Straftaten?

Unser System fußt insgesamt auf drei Säulen: Recht, Exekutive und Gerichtsbarkeit. Unsere Kommission ist verantwortlich für die Gerichtsbarkeit. Es geht uns um die Lösung gesellschaftlicher Probleme und zwar auf demokratische Art und Weise. Wir verstehen uns daher nicht als klassisches Gericht, sondern als eine Institution, die bestehende Probleme als gesellschaftlich begreift und dementsprechend angeht.

Im Rahmen unseres Organisationssystems im Camp organisiert sich jeder Bereich eigenständig. Unsere Kommission ist ein Bestandteil dieses Systems und orientiert sich in ihren Arbeiten an den gesellschaftlichen Bedürfnissen. Wir arbeiten nicht mit einem staatlichen Verständnis von Gerichten.
Es geht uns vielmehr darum, dass die Gesellschaft ihre Probleme selbstständig löst. Wenn wir uns diesem Thema aus einer staatlichen Logik heraus annähern, ergibt sich ein ganz anderes Bild. In Mexmûr ist dieser Bereich ebenso wie die anderen Organisationsbereiche autonom organisiert. Nicht entlang staatlicher Maßstäbe, sondern entlang des Anspruchs, demokratische Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu finden. All unsere Institutionen und Organisationen hier im Camp sind Teil des demokratischen Systems. Das bedeutet u.a., dass sie ihre spezifischen Fragen und Probleme autonom angehen und lösen. Dazu gehört auch eine gewisse Flexibilität.

Wir als Kommission lösen die Probleme der Gesellschaft ohne auf klassische Gerichte oder Gesetzeswerke zurückzugreifen. Wenn wir uns die Gesellschaftsgeschichte der letzten 10.000 Jahre ansehen, können wir erkennen, dass verschiedene Gesellschaften über sehr lange Zeit keinerlei Bedarf an Gerichten entwickelten und ihre Probleme trotzdem selbst lösen konnten. Genau dieses System möchten wir heute hier in Mexmûr umsetzen und tun dies auch bereits. Wenn es also zu einem Konflikt in der Gesellschaft kommt, kümmert sich unsere Kommission oder ein kleines Team darum. Ihr wisst, dass wir als Camp auf eine 25-jährige Fluchtgeschichte zurückblicken. Die hier lebenden Menschen sind seit einem Viertel Jahrhundert von ihrer Heimat getrennt. Bereits vor ihrer Flucht lösten die Menschen in ihren Dörfern und Gemeinschaften ihre gesellschaftlichen Konflikte auf eine ähnliche Art und Weise, wie wir es heute im Camp tun. Nach der unmittelbaren Fluchtphase bauten die Menschen in Mexmûr ihr eigenes System nach demokratischen Prinzipien auf und schafften es so, die Last auf ihren Schultern ein wenig abzumildern. Dieses System hat sich heute etabliert.

Wir haben es hier in Mexmûr mit einer politisch-moralischen Gesellschaft zu tun. Daher kommt es nicht zu so schwerwiegenden Problemen wie in den Metropolen, also z.B. Vergewaltigungen, körperlicher Gewalt, Drogenkonsum oder Entführungen. Diese Probleme gibt es hier entweder nur zu einem sehr geringen Ausmaß oder gar nicht. Es kommt eher zu alltäglichen kleineren Streitigkeiten, die sich natürlich leichter lösen lassen. Hier im Camp leben wir wie eine Art große Familie zusammen, im guten wie im schlechten Sinne. Wir gestalten unser Leben gemeinschaftlich und kollektiv. In den vergangenen 25 Jahren ist es nur einmal zu einem Streit zwischen zwei Jugendlichen gekommen, bei dem einer von ihnen starb. Angesehene Personen aus der Gesellschaft setzten sich daraufhin zusammen und fanden eine Lösung, mit der sich beide Seiten abfinden konnten. Es wurde damals alles dafür unternommen, dass die Familien der beiden Jugendlichen sich versöhnen, was auch gelang. Bis heute kam es zwischen den beiden Familien zu keinen weiteren Problemen.
Hätten wir es nicht mit einer derart politisierten und ideologischen Gesellschaft zu tun,Ein Interview mit der Friedens- und Gerechtigkeitskommission wären die Stämme, zu denen die beiden Familien gehören, vielleicht in einen Konflikt miteinander geraten und es wäre zu weiterem Blutvergießen gekommen. Oder die Seite des Mörders wäre aufgefordert worden, die Gemeinschaft zu verlassen. So etwas ist unter anderen Bedingungen bereits häufig vorgekommen.

An keinem anderen Ort der Welt findet sich eine Gemeinschaft, die seit 25 Jahren auf der Flucht ist. Heute gehört insbesondere Europa zu den Regionen, in die besonders viele Menschen fliehen. Die psychologische Verfassung von Geflüchteten ist wirklich eine eigene Welt. Kein anderes Geflüchtetencamp hat es wie wir geschafft, über 25 Jahre auf den Beinen zu bleiben und noch dazu ein demokratisches System aufzubauen, wie wir es getan haben. Es gibt uns seit 25 Jahren und noch immer verfügen wir über keinen offiziellen Status. Weil wir uns an der Ideologie der PKK orientieren, akzeptiert die KDP unser Camp nicht. Sie akzeptiert uns nicht, weil wir ein eigenes System aufgebaut haben. Aufgrund unserer Identität sind wir seit 25 Jahren Geflüchtete. Weil wir uns auf demokratische Art und Weise organisieren, das heißt auf kommunaler Basis, haben wir es geschafft, bis heute gemeinsam zu leben und nicht auseinander zu gehen. So werden wir auch weiter machen.

 

An dieser Stelle endet die Leseprobe. Der vollständige Text ist in der Broschüre abgedruckt, die ihr über den online-Versand Black Mosquito beziehen könnt.

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