Die Bevölkerung des Camps Mexmûr blickt auf eine knapp 25-jährige Fluchtgeschichte zurück. Die Erinnerung an diese Geschichte wird von den Menschen stets wach gehalten. Immer wieder wurde uns von der Vertreibung aus den Dörfern, dem mehrjährigen Exodus durch Südkurdistan und dem mühseligen Aufbau des Camps berichtet. An einem Abend nahmen sich die Kovorsitzende und der Kovorsitzende des Volksrates mehrere Stunden Zeit, um uns die Geschichte des Camps Mexmûr zu erzählen.
Wir wollten mit Ihnen über die Geschichte dieses Camps sprechen. Warum sind die Menschen damals geflohen? Wieso sind sie nicht, wie viele andere in jener Zeit, in die Metropolen emigriert oder haben den Weg in Richtung Europa eingeschlagen? Was haben sie in Folge ihrer Flucht erlebt? Was haben sie erlebt, bis sie schlussendlich in Mexmûr gelandet sind?
Auf all diese Fragen wünschen wir uns Antworten. Aber wir möchten ihnen als jemand, der von der ersten Stunde an die Geschichte dieser Fluchtbewegung miterlebt hat, gerne das Wort übergeben.
Ich werde den geschichtlichen Teil übernehmen, weil die Kovorsitzende noch sehr jung war, als die Emigrationsgeschichte dieser Menschen begann. Doch sie kann über das System des Camps und die jüngere Geschichte berichten, wenn ihr das möchtet. Wenn es Zwischenfragen gibt, dann könnt ihr jederzeit nachhaken. Natürlich kann es bei mir auch Erinnerungslücken geben. Ich werde versuchen, die wichtigsten Punkte der Geschichte zusammenfassend zu erzählen. Denn es handelt sich letztlich um eine lange Zeitspanne. Das ist also keine Sache, die man in ein oder zwei Stunden schnell herunter erzählen kann. Ich werde also versuchen mich kurz zu halten.
Die Bevölkerung von Mexmûr besteht praktisch zu hundert Prozent aus Menschen, die aus Nordkurdistan stammen. In der Regel sind die Menschen aus den Provinzen Hakkari, Sirnak, Mardin und Siirt, also aus den dörflichen Gebieten dieser Provinzen. Die Dörfer, aus denen die Menschen kommen, sind in ihrer Mehrheit an Gever, Hakkari, Cukurca, Beytüsebab, Uludere, Sirnak, Cizre, Silopi, Eruh und Idil angebunden. Rund 95% der Menschen hier stammen aus diesen Gebieten.
Sie alle liegen in einer Region, die wir als Botan bezeichnen. Das sind zugleich auch die Gebiete, in denen der kurdische Freiheitskampf begonnen hat. Also die Gebiete, in denen der bewaffnete Kampf aufgenommen wurde. Deswegen ist Botan auch die Region, in welcher der türkische Staat am meisten Repressionen und Folter angewendet hat.
Der türkische Staat führte in diesem Gebiet in den 90er Jahren großangelegte Operationen durch. Er wollte mit seiner Politik sozusagen das Meer austrocknen, um den Fisch zu fangen. 4.000 Dörfer wurden geräumt. Die Weideflächen wurden zu verbotenen Zonen erklärt. In dieser Region wurde das Leben zum Stillstand gebracht. Hunderte, wenn nicht sogar tausende Menschen wurden festgenommen. Sie wurden im Gefängnis von Diyarbakir und anderswo gefoltert. Wieder hunderte bis tausende Menschen wurden auf offener Straße von “unbekannten Tätern” hingerichtet. Über alle Dörfer wurde ein wirtschaftliches Embargo verhängt. Man konnte nur noch Lebensmittel gegen Gutscheine erwerben. Das heißt, die Lebensmittel wurden strikt rationiert. Man musste sich bspw. die Erlaubnis für ein Kilogramm Zucker bei Militärposten einholen und durfte dann auch nur die entsprechende Menge einkaufen.
Die Menschen aus der Region lebten vor allem von Viehzucht und Landwirtschaft. Aber beide Existenzgrundlagen wurden den Menschen genommen. Die Weiden wurde zu verbotenen Zonen erklärt. Du konntest also dein Vieh nicht weiden lassen. Was machst du dann? Du bist gezwungen, es zu verkaufen. Dasselbe galt für die landwirtschaftlichen Ackerflächen, welche die Bauern nicht mehr bestellen durften. Die Gebiete wurden ohnehin regelmäßig mit Raketen beschossen oder es wurden dort Minen gelegt. Der gesamte Lebensraum wurde somit praktisch unbewohnbar gemacht.
Viele unserer Menschen flohen in die türkischen Metropolen oder nach Europa. Ein kleiner Teil allerdings suchte Zuflucht in Südkurdistan. Diese Fluchtbewegungen geschahen in den Jahren 1991, ’92 und ’93. Im Jahr 1994 erreichte die Unterdrückung ihren Höhepunkt. Das war auch das Jahr, in dem die Kämpfe zwischen der PKK und dem türkischen Staat am heftigsten waren.
Der Staat stellte in dieser Phase eine Delegation zusammen und schickte sie in die Dörfer. Diese Delegation sollte den Dorfbewohnern das Dorfschützer-System aufzwingen. Sie unterbreiteten uns drei mögliche Optionen: Entweder sollten wir zu Dorfschützern werden. Oder wir sollten unsere Heimat verlassen. Als dritte Option verwiesen sie uns auf das Beispiel des Dorfes Şiriş. Im März 1994 wurde das Dorf Şiriş aus der Luft bombardiert. Dieses Beispiel riefen sie uns in Erinnerung und erklärten, wenn wir hier bleiben sollten, würden sie uns dasselbe antun, was sie auch dem Dorf Şiriş angetan hatten.
An dieser Stelle endet die Leseprobe. Der vollständige Text ist in der Broschüre abgedruckt, die ihr über den online-Versand Black Mosquito beziehen könnt.