Einleitung

Eigentlich hatten wir uns im Sommer 2018 zu sechst auf eine Reise nach Rojava/Nordsyrien begeben. Wir wollten die Revolution, die bereits seit 2012 eine basisdemokratische Selbstverwaltung der Gesellschaften in Nordsyrien hervorbringt, mit eigenen Augen sehen. Wir, das sind junge Sozialarbeiter*innen und -wissenschaftler*innen sowie Pädagog*innen, die eigentlich ein Waisenhaus-Projekt in Kobanê besuchen wollten, um es mit einer Öffentlichkeitskampagne in Deutschland zu unterstützen.

Die Behörden der südkurdischen Regionalregierung ließen uns allerdings nicht über die Grenze zwischen dem Nordirak und Nordsyrien, sodass eine Einreise nach Rojava für uns unmöglich wurde. Also reisten wir einen Monat durch Südkurdistan, wovon wir drei Wochen im Geflüchtetencamp Mexmûr verbrachten.

Mexmûr ist der kurdische Name einer Stadt mit etwa 20.000 Einwohner*innen im Gouvernement Hewlêr im Nordirak. Seit dem Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) 2014 liegt sie jedoch an der Grenze zwischen dem von der irakischen Zentralregierung in Bagdad kontrollierten Gebiet und dem Einflussgebiet der Regionalregierung Kurdistan (KRG) unter der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP). Daher untersteht die Region derzeit den irakischen Behörden in Mossul.
Einen Kilometer von der Stadt Mexmûr entfernt liegt das Camp “Şehîd Rustem Cûdî”, das hier, am Fuße eines niedrigen Bergzuges, von seinen Bewohner*innen errichtet wurde.

Die Bevölkerung des Mexmûr-Camps wurde Anfang der 1990er Jahre vom türkischen Militär aus ihren Dörfern in Nordkurdistan vertrieben. Sie standen vor der Wahl, für das Militär gegen die Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) zu kämpfen oder ihre Dörfer zu verlassen. Sie entschieden sich damals gemeinsam und bewusst, nicht gegen ihre eigenen Schwestern und Brüder zu kämpfen, aber auch nicht nach Europa oder in den Westen der Türkei zu ziehen, sondern in Kurdistan zu bleiben. Darum entschlossen sie sich in Richtung Süden zu ziehen, von wo bloß fünf Jahre zuvor Kurd*innen vor den ethnischen Säuberungen des Baath-Regimes unter Saddam Hussein in die andere Richtung geflohen waren. Nach einer mehrjährigen Odyssee durch Südkurdistan kam diese Gemeinschaft 1998 in Mexmûr an. Obwohl die Herrschenden sie zum Sterben an den Rand der Wüste ziehen ließen, schafften sich die Geflüchteten eine Oase, eine Kleinstadt mit ca. 12.000 Einwohner*innen, die trotz Armut, stetiger Bedrohung und Angriffen ein Ort des Friedens und der kollektiven Selbstbestimmung ist, die weit über die Notwendigkeiten der Flucht hinaus gehen.

Im Mexmûr-Camp erlebten wir eine kämpfende Gemeinschaft, kämpfend auf vielen Ebenen. Die Bevölkerung kämpft in ihrem Alltag gegen die Regime der Region, ob kurdische, türkische oder arabische. Dabei wehren sie sich gegen jede Ethnisierung der Konflikte und verfallen auch nicht in Chauvinismus gegen andere.

Auch kämpft das Camp Mexmûr militant. Eine andere Chance, in der Region zu überleben, gibt es nicht, wie der Angriff des IS auf das Camp zeigt. Selbst die UN trauen sich derzeit nicht in die Region, weil diese nicht sicher sei, Unterstützung gibt es daher kaum. Da sich das Camp als Teil der Freiheitsbewegung Kurdistan versteht und nie nur auf sich selbst schaut, haben sich viele, vor allem junge Menschen der Guerilla in
den Bergen Kurdistans oder dem Widerstand von Rojava angeschlossen. Ob in Mexmûr, in den Bergen oder in den Kämpfen um Kobanê und Afrîn haben mittlerweile über 600 Menschen aus Mexmûr ihr Leben für den Kampf um Selbstbestimmung verloren.
Und um Selbstbestimmung kämpft das Camp von Beginn an. Vor allem auch innerhalb der eigenen Gemeinschaft ist die gesellschaftliche Befreiung das Ziel dieses Kampfes. Die Gemeinschaft organisiert sich anhand der Ideen Abdullah Öcalans und des von ihm inspirierten Paradigmas von Basisdemokratie, Feminismus und Ökologie. Mexmûr versteht sich als Teil einer friedlichen und demokratischen Revolution; also eines Rätesystems inspiriert vom Demokratischen Konföderalismus. Die Selbstorganisierung des Camps und seiner Bevölkerung bezeichnet sie als Demokratische Autonomie.

Konkret bedeutet das, dass alle Arbeiten im Camp Mexmûr von der Bevölkerung selbst organisiert werden. Dafür wurden in den fünf Bezirken des Camps je vier Kommunen gegründet, die das gemeinsame Leben der Einwohner*innen an der Basis organisieren und die entstehenden Bedürfnisse versuchen kollektiv zu befriedigen. Die Kommunen schließen sich über Bezirksräte zu einem gemeinsamen Rat zusammen, dem Volksrat, der wiederum über Kommissionen und Komitees für verschiedenste Arbeiten verfügt. Manche Bereiche des Lebens wie Bildung oder Gesundheit sind derart breit ausdifferenziert, dass sie wiederum eigene Räte bilden, die an den allgemeinen Volksrat angeschlossen sind.

Auf allen Ebenen und in nahezu allen Bereichen organisieren sich die Frauen sowie die Jugend jeweils autonom. Sie nehmen an den allgemeinen Strukturen und ihren Arbeiten teil, bestimmen sich aber über ihre eigenen Räte und Bewegungen selbst.
Dies entspricht der Idee der Demokratischen Autonomie, die sich durch alle Arbeiten zieht: Die kleinste Einheit, bis hin zu den Einzelnen, trägt für sich selbst Verantwortung und setzt sich und sein Handeln in ein solidarisches Verhältnis zum Kollektiv, das wiederum Verantwortung für sich und alle seine Teile übernimmt.
Diese symbiotische Beziehung lässt sich nicht anhand von Strukturen und bloßen Verfahrensbeschreibungen verstehen. Sie muss gesehen, gefühlt und gelebt werden. Wir hoffen, durch diese Broschüre einen Eindruck von unseren Erfahrungen vermitteln und etwas von dem Erlebten teilen zu können.

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    Die Broschüre kann über den online-Versand Black Mosquito für 10,00 Euro bestellt werden. Der gesamte Erlös fließt in die Krankenwagen-Kampagne.